2. Februar 2018

Geologie und das Unglück am Djatlov-Pass

Im Januar 1959 machte sich eine Gruppe von zehn jungen Leuten, zwei Frauen, die jüngste war gerade mal 20 Jahre, und acht Männer, der älteste war 37, auf eine schwierige Skitour zum Berg Otorten, in der Wildnis des nördlichen Ural-Gebirges, auf. Die Gruppe führte ein Tagebuch und Fotokameras mit sich und so ist der Verlauf der Dyatlov-Expedition bis zum ersten Februar relativ gut nachvollziehbar. Dann geschah etwas, was zum Tod von neun Mitgliedern führte.

Die Manpupunjor-Felsen in der Gegend des Djatlov-Passes. Die seltsamen Türme sind die erodierten Reste einer ehemaligen Schicht aus Glimmerschiefer.

Die Gruppe aus Studenten und einen Kriegsveteranen, der 37-jährige Semyon Zolotaryov, wurde von Igor Dyatlov (23 Jahre) angeführt. Dyatlov hatte bereits im Jahr zuvor eine ähnliche Expedition durchgeführt, die in der ehemalige Sowjetunion nötig war, um ein Sportzertifikat zu erhalten. Nach einer längeren Reise mittels Zug und Bus erreichte die Gruppe am 25. Januar die Ortschaft Vizhay. Von dort nahm sie ein Lastwagen bis zu einer Holzfällersiedlung – Lager 41 – mit. Am 27. Jänner erreichten sie die letzten Außenposten der Zivilisation, das aufgelassenes Lager Nord-2, einen ehemaligen Stützpunkt für die geologische Prospektion der Gegend. In der Nacht verschlimmerten sich die Schmerzen bei einem der Teilnehmer. Yuri Yudin war Student der Ökonomie, und hatte seinem Institut an der Staatlichen Technischen Universität des Uralgebiets in Jekaterinburg  - einer Stadt die auch vom Bergbau im Ural lebte -  versprochen, einige Gesteinsproben aus dieser Gegend zurückzubringen. Er verbrachte den 28. Januar damit, Gesteinsproben zu sammeln, konnte aber rund um das Lager nur Quarz und Katzengold (Pyrit) finden. Als die Schmerzen nicht besser wurden, beschloss er die Expedition abzubrechen. Ab hier war nämlich nur noch Übernachtung im Zelt möglich, und die Strecke, die im Wald und an Berghängen entlanglief, war nur noch zu Fuß oder mittels Schi machbar. In seinem Zustand eine Zumutung die auch die ganze Gruppe behindert hätte. Ironischerweise rettete seine angeschlagene Gesundheit an jenen Tag sein Leben.

Schweren Herzens beschloss er mit einem lokalen Führer, der die Gruppe bis hierher begleitet hatte, zurückzukehren. Die Gruppe bestand nun aus neun Mitgliedern, die den Lauf des Flusses Auspiya in die Berge folgten. Wetterbedingungen waren relativ schlecht, das bewaldete Gelände schwierig, die Gruppe kam daher nur langsam voran. 

Am 31. Januar 1959, an der Waldgrenze angelangt, musste man einen Gebirgspass an der Höhe 1079 queren. Höhe 1079 war der damalige Name des Berges Kholat Syakhl, was in der Sprache der lokalen Nomaden des Mansen-Volkes der Tote-Berg bedeuted, da dort kaum Bewuchs und Nahrung für die Rentierherden gefunden werden konnte. Die Gruppe scheint aber zu weit westlich des eigentlichen Passes angelangt zu sein. Am Morgen des 1. Februars besserte sich das Wetter. Ein provisorisches Lager wurde eingerichtet, wo man einige Dinge, die man auf den letzten Teil der geplanten Strecke nicht brauchte, verstaut wurden, wie auch Brennholz das im Wald gesammelt worden war. Schließlich machte sich die Gruppe gegen Mittags auf, um den Grat des Berges zu queren. Während des Aufstiegs kam aber ein Sturm auf. Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit, beschloss man am Berghang, unterhalb des Gipfels des Kholat Syakhl zu übernachten, auch war das eigentliche Ziel der Expedition, der Berg Otorton, in Sichtweite. Gegen 5 Uhr Nachmittags war das Zelt am leicht geneigten Hang aufgebaut, gerade rechtzeitige, da schon die Sonne unterging. Gegen Abend nehmen die erschöpften Wanderer etwas zu Essen ein und legen sich schlafen.

Blick vom Djatlov-Pass auf den Berg Otorten im Februar 1959, das Ziel der Djatlov-Gruppe. Der Ural ist ein Gebirgszug, der durch den Zusammenstoß der Sibirischen Platte mit Pangaea vor 300 Millionen Jahre (variszische Orogenese) aufgefaltet wurde.

Was dann genau passierte, ist noch heute ein Rätsel. Irgendwann in der Nacht vom 1. zum 2. Februar muss die Gruppe in Panik verfallen sein. Sie schlitzten die Seite des Zeltes teilweise auf und fliehen hinein in die Nacht, teilweise nur mit einem leichten Nachtanzug bekleidet. Kaum einer hatte Stiefeln oder Mützen an. Eine Rückkehr zum Zelt war nicht möglich oder die Gruppe fand den Weg dahin nicht zurück. Die erhaltenen Spuren im Schnee zeigten, das alle neun Mitglieder sich hinunter zur Waldgrenze, in das Tal der Lozva, begaben, ungefähr eine Strecke von anderthalb Kilometern in der Richtung die am nächsten Tag eingeplant gewesen war.

Das Suchteam rastet im Windschatten einer seltsamen Felsformation am Abhang des
Kholat Syakhl.

Beinahe einen Monat später wurden, während der Suche nach der vermissten Gruppe, unter einer großen Zeder, die Reste eines Lagerfeuers gefunden. Dort fand man Yuri Krivonischenko und Yuri Doroshenko, beide nur in Nachthemd bekleidet. Später wurde festgestellt, das beide durch Erschöpfung und an der Kälte gestorben waren. Einige Zeit danach wurden noch die Leichen von Igor Dyatlov, Zinaida Kolmogorova und Rustem Slobodin gefunden, anscheinend zusammengebrochen während des Versuchs, zurück zum Zelt, auf den Berghang, zu gelangen. Lyudmila Dubinina, Semyon Zolotaryov, Alexander Kolevatov und Nikolai Thibeaux-Brignolles wurden erst während der Schneeschmelze im Mai gefunden. Die Körper lagen ungefähr 70 Meter tief im Wald, teilweise in einem Bachbett liegend. Anscheinend hatten sie versucht, sich ein Lager herzurichten. Sie hatten teilweise fremde Kleider an, vielleicht ein Versuch, sich gegen die Kälte zu schützen, indem sie die Bekleidung ihrer bereits verstorbenen Freunde anzogen. Auffällig waren die schweren Verletzungen die die Körper aufwiesen, darunter mehrere Rippenbrüche. Die damaligen Untersuchungen der Behörden wurden ergebnislos abgeschlossen. Da Fremdverschulden ausgeschlossen werden konnte, es wurden keine fremden Spuren im Gelände gefunden, war letztendliche das Urteil, dass alle Gruppenmitglieder an einer „Elementargewalt“ starben.

Zwei große Fragen bleiben offen. Wie und warum starben alle Gruppenmitglieder?

Während der Tod der einen Hälfte der Gruppe durch Erschöpfung und Kälte plausibel scheint, Temperaturen um die -30° herrschten dort in jener Nacht und die Expeditionsmitglieder hatten beinahe nichts an um sich vor dieser Kälte zu schützen, ist unklar, was die schweren Verletzungen in der anderen Hälfte der Gruppe verursachte. Der Gerichtsmediziner, der die Körper untersuchte, vermutete einen Sturz in das Bachbett hinein und auch Zersetzung, da die Körper lange Zeit der Witterung ausgesetzt waren. Möglich auch das die kleinere Gruppe sich eine Höhle in den Schnee gegraben hatte. Als diese aber zusammenstürzte, erdrückte die 3-4m mächtige Schneemasse alle vier Personen. 

Die wichtigere Frage, was erschreckte die Gruppe so sehr, dass sie überhaupt das sichere Zelt verließen?  

Vorgeschlagen wurde eine Lawine. Jedoch ist der Hang sehr gering geneigt, und weist eine hohe Rauigkeit auf, ungünstige Bedingungen für den Abgang einer Lawine. Die Gruppe muss dies auch so gesehen haben. Die erfahrenen Wanderer hätten wohl kaum in einen aktiven Lawinenhang ihr Nachtlager aufgeschlagen.
Eine eher unwahrscheinliche Erklärung sieht einen Zusammenhang zwischen dem Unglück am Dyatlov-Pass und seltsame Leuchterscheinungen, die angeblich am Himmel über der Gegend von einigen Geologen beobachtet worden waren. Handelte es sich dabei um Erdbebenlichter? Tatsächlich sind die Gesteine rund um den Dyatlov-Pass sehr quarzreich, und Quarz – so vermuten manche Wissenschaftler – spielt eine Rolle bei der Entstehung der mysteriösen Erdbebenlichter. Führte eine unheimliche Feuerkugel, die auf das Zelt zu fallen schien, zur Panik? Da die Existenz von Erdbebenlichter aber selber nicht geklärt ist, führt diese Erklärung nicht wirklich weiter.

Verschüttete doch ein Schneebrett teilweise das Zelt, aber in der Dunkelheit befürchtete die Gruppe den Abgang einer größeren Lawine? Wieso aber, nachdem sie das Zelt verlassen hatten, nicht wenigstens noch einige Kleider retten? Den vermuteten Tod durch Lawine war der sichere Tod durch Erfrieren vielleicht vorzuziehen.

Der Fall bleibt noch 59 Jahre nach jener Nacht ungeklärt.